Wissenswertes

In Medizinforschung ohne Patienten einsame Spitze

Die  meinungsbildenden Medien als Forum für die seltsame Wissenschaftlichkeit des  aus Bayern stammenden britischen Professors Edzard Ernst

Unter dem Titel «Nazis, Nadeln und Intrigen» hat der aus Deutschland stammende britische Professor Edzard Ernst mit allen selbst  ausgewiesenen Titeln MD, PhD, FMedSci, FSB, FRCP, FRCPEd seine Autobiografie veröffentlicht, mit der er gegen alternative und komplementäre Heilverfahren und seine Widersacher zu Felde zieht und sich als Enthüller der Verstrickungen dieser Medizin mit Nazi-Deutschland präsentiert. Fast kritiklose Unterstützung findet Ernst seit Jahren bei den meinungsbildenden Medien in den deutschsprachigen Ländern. So    veröffentlichen Süddeutsche Zeitung, Tages-Anzeiger in Zürich und Basler Zeitung im März 2015 unter dem Titel «Wir lassen uns viel zu viel gefallen» ein    ganzseitiges Interview mit Edzard Ernst. Um Legendenbildungen entgegenzutreten, versucht unser Autor Christian Ullmann, der seit Jahren die seltsame Publikationstätigkeit Ernsts verfolgt und zahlreiche seiner Aufsätze analysiert hat, eine Würdigung des Gesamtwerks.

Wenn deutsche Medien über komplementäre und alternative Heilverfahren informieren wollen, darf die Bezeichnung «sanfte Medizin» nicht fehlen: so etwa in einer WDR-Sendung «Sanfte Medizin und satte Gewinne»[1], in dem Focus-Titel «Die Wahrheit über sanfte Medizin»[2] und zuletzt in dem Spiegel-Wissen-Themenheft «Natürlich heilen – Gesund mit sanfter Medizin»[3]. In den Beiträgen selbst gehen die Autoren dann regelmäßig weniger sanft zu Werke. Es ist immer wieder faszinierend, erleben zu dürfen, wie stets den selben «besten Kennern» ein Forum geboten wird. Diese präsentieren sich dort als mannhafte Einzelkämpfer, die mit Bezug auf die angeblich allein wissenschaftlichen Doppel-Blind-Studien mit meistens weniger als hundert Probanden die guten Erfahrungen ungezählter, vielfach in die Millionen gehenden Patienten und Behandlern  als Trugschlüsse und Suggestionseffekte entlarven. Das gilt vor allem für die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) einschließlich der Akupunktur, deren erste klassische Texte vor 2000 Jahren erschienen sind, oder die Homöopathie, deren Grundlagen der deutsche Arzt Samuel Hahnemann vor mehr als 200 Jahren legte und deren Wirksamkeit bis heute gut dokumentiert ist, aber auch für die verschiedenen Zweige der Naturheilkunde.  Der deutsch-britische Alternativ-Professor Ernst, 67, kam in allen drei Publikationen als «einer der führenden Erforscher sanfter Methoden» (so Spiegel Wissen) zu Wort.

«Kein Wissenschaftler» – so wissen die Focus-Autoren zu berichten – «hat Homöopathie so gründlich auf ihre mögliche Heilkraft untersucht wie Edzard Ernst. Der emeritierte Professor der britischen Universität Exeter arbeitete einst selbst mit homöopathischen Mitteln. Später testete er deren Wirksamkeit.»[4] In Spiegel Wissen liest sich das etwas anders: Dort  erklärte er in dem Interview «Schätze in der Pflanzenmedizin» ausführlich, «was Schulmedizin von Homöopathie & Co. lernen kann». Seine Kompetenz, um auf diesem Gebiet mitreden zu können, gründe schon – so Ernst – in frühen Erlebnissen als Kind im bayerischen Bad Tölz.  Obwohl er «aus einer Arztfamilie» stamme, ließen ihn seine Eltern von einem der berühmtesten deutschen Homöopathen, Willibald Gawlik, behandeln, und er musste  im zarten Alter «jede Menge Globuli» schlucken und zwar «gegen alles, sogar gegen Gelbsucht, und ich wurde gesund».  Und weiter: «Wenn die Krankheit verschwindet, zieht man als Laie den Schluss, dass die Mittel gewirkt haben – damals war ich Laie.»[5]

Experte auf diesem Gebiet sei er in seiner ersten Stelle als Arzt im Krankenhaus für Naturheilweisen in München geworden, «damals die einzige homöopathisch geführte Klinik in Deutschland».  Aber diese Anstellung dauerte gewiss nicht so lange, um Homöopathie-Experte zu werden. In einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger antwortete er auf die Frage: Besonders angefeindet werden Sie von den Homöopathen. Warum? Dabei sind Sie doch selbst ausgebildeter Homöopath: «Das wird oft gesagt, ich habe aber keine vollständige homöopathische Ausbildung. Ich habe mal etwa ein halbes Jahr in einem Krankenhaus für Naturheilweisen gearbeitet und dort auch die Homöopathie kennengelernt. Ich verstehe aber so viel, dass ich sie bewerten kann. Ich bin ein Kritiker von innen.»[6] In einem ausführlichen Bericht von Max Rauner in Zeit Online über ein Gespräch mit Ernst erfährt man, er «hatte selbst einige Monate lang im Münchner Krankenhaus für Naturheilweisen gearbeitet, wo er auch homöopathische Mittel verabreicht hatte»[7].  Etwa zehn Jahre vorher las sich das noch ganz anders. In dem Aufsatz «A systematic review of systematic reviews of homeopathy» erklärte er am Schluss unter Conflict of interest: «The author is a trained homeopath; he has no financial interests in this area.»[8]

Stellt sich die Frage, auf welche Weise Ernst seine Kenntnisse in Homöopathie erworben haben kann? Während des Medizinstudiums kann dies nicht geschehen sein, da Homöopathie an Universitäten nicht gelehrt wurde. Somit können Qualifikationen in Homöopathie auch nicht zu den Einstellungsvoraussetzungen als Arzt im Krankenhaus für Naturheilweisen gezählt haben. Er musste folglich für andere dort praktizierte Heilverfahren vorgesehen worden sein und konnte während der kurzen Zeit seiner dortigen Anstellung kaum gründliche Kenntnisse in Homöopathie einschließlich der homöopathischen Patientenbehandlung erworben haben. Es gab damals mit Sicherheit viel zu wenige Patienten, um ein hinreichend umfangreiches Spektrum von Reperisation und klinischen Behandlungen überschauen zu können. Vielleicht hat er hin und wieder ein homöopathisches Komplexmittel aus der Krankenhausapotheke verabreicht. Das wäre nicht weiter erwähnenswert. Wenn er inzwischen aber  behauptet, dass Homöopathie Leben gefährden könne (wie gegenüber dem Kölner Stadt-Anzeiger), dann muss er sich selbst vorhalten lassen, Patienten damals äußerst fahrlässig und verantwortungslos behandelt zu haben.

Das gilt besonders deshalb, weil er inzwischen die Homöopathie und darüber hinaus alternative Medizin insgesamt ziemlich pauschal als «unethisch, kriminell» apostrophiert und behauptet, sie sei «wahrscheinlich am Tod von Apple-Boss Steve Jobs» beteiligt gewesen. Auf einer Konferenz der Australian Pharmaceutical Science Association in Adelaide meinte er laut einem Bericht der Zeitung The Australian im Dezember 2011, dass «die Fülle von Fehlinformationen über Homöopathie – die ‹Gleiches mit Gleichem› mit einer Verdünnung von Elementen behandle – zu Todesfällen beigetragen habe, wahrscheinlich auch jenem von Jobs, der im Oktober 2011 an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb»[9]. Was macht es da schon, dass unter den Verfahren, die Jobs in freier Entscheidung als mündiger Patient für seine Behandlung ausgewählt hatte, Homöopathie überhaupt nicht vertreten war, wie man auch in dem Spiegel-Wissen-Heft nachlesen kann[10].  Seinem Biographen Walter Isaacson hatte Jobs gesagt, warum er sich keiner Operation unterzog: «Ich wollte nicht, dass mein Körper geöffnet wird; ich wollte nicht, auf diese Weise verletzt zu werden.» Später hatte er dann doch bedauert, dass er sich nicht hatte operieren lassen. Gleichwohl fahndete Ernst über Twitter nach anderen prominenten Persönlichkeiten, bei denen alternative Behandlungen lebensverkürzend gewirkt haben könnten.[11] [12]

Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens an den Pranger zu stellen, die sich Behandlungen mit komplementären Heilverfahren unterzogen haben, scheint überhaupt ein Anliegen von Ernst zu sein: Als «Weihnachtsangebot» veröffentlichten Ernst und sein langjähriger Mitarbeiter Max H. Pittler im Dezember 2006 unter dem Titel «Celebrity-based medicine» im Medical Journal of Australia eine Liste von 38 prominenten Persönlichkeiten, die sich in den Jahren 2005 und 2006 «CAM-Interventionen» unterzogen hatten, darunter in Homöopathie: Königin Elizabeth II., Pamela Anderson, Boris Becker, Tony Blair, die Sängerin Cher, Cindy Crawford, Jane Fonda, Martina Navratilova, Olivia Newton-John und Tina Turner. Erwähnenswert an Arnold Schwarzenegger war den Autoren zudem, dass er sich einer Atemtherapie unterzogen hatte. Ernst und Pittler sahen in dieser Liste einen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass «viele Prominente eine Zuneigung zu CAM haben, und das mag die aktuelle Popularität solcher Therapien wie Homöopathie und Akupunktur erklären, weil die Menschen ihre Idole nachzuahmen trachten.»[13]

Seine Haltung, dass in Globuli «nichts drin (sei), was Heilung bewirken könnte»,  hat Ernst nicht immer so radikal vertreten. In der Juli-August-Ausgabe 2004 der Zeitschrift Clinical Journal of Pain schrieb er: «Es besteht einige Evidenz, welche die Überlegenheit homöopathischer Rezepte gegenüber Placebo zur Behandlung von Osteoarthritis und rheumatoider Arthritis stützt.»[14] In einer anderen recht umfangreichen Publikation schrieb er: «Insgesamt beweist die Evidenz, dass einige CAM-Modalitäten signifikante Aussichten zeigen, zum Beispiel Akupunktur, Diät,  Phytotherapie, Homöopathie, Massage und Ergänzungsmittel.»[15] Wenn – wie in den beiden zitierten Artikeln – Evidenz besteht, dann können diese Verfahren nichts anders als evidenzbasiert sein und damit den «Golden Standard» der Wissenschaftlichkeit erfüllen.  Auch in einem Übersichtsaufsatz über komplementäre Therapien bei Depressionen kam Ernst (mit zwei Koautorinnen) zu einer wesentlich günstigeren Bewertung als neuerdings. Er verwies auf eine nicht abgeschlossene Studie, in der homöopathische Behandlung mit Diazepam-Medikation gegen gleichzeitig in verschiedenen Stadien kombiniert auftretende Angst und Depression verglichen wurde, und kam zu der Bewertung, dass dieser «offene Versuch von niedriger methodologischer Qualität war, aber ein Ergebnis zu Gunsten der Homöopathie zeigte».  Und deshalb resümierte er: «Der Wert der Homöopathie als eine Behandlung ist deshalb gegenwärtig unbekannt.»[16]

In dem Bericht «Homöopathie: Argumente und Gegenargumente» schrieb Ernst im Deutschen Ärzteblatt im Jahre 1997: «Wir können uns heute auf kontrollierte Studien und Metaanalysen stützen. Derzeit existieren drei unterschiedliche Metaanalysen von drei unabhängigen Arbeitsgruppen (22, 3, 19) sowie eine systematische Übersicht von anerkannt hoher Qualität (21). Diese Publikationen kommen ohne Ausnahme zu einem positiven Ergebnis (sie implizieren, dass Homöopathika Plazebos überlegen sind), räumen jedoch alle ein, dass methodische Schwächen der Einzelstudien eine definitive Schlussfolgerung nicht zulassen. Es ist in der Tat nicht möglich, auch nur eine einzige Studie zu finden, die einer strengen Kritik standhalten würde (5). Die im Auftrag der Europäischen Union erstellte Analyse (19) ist deswegen besonders hervorzuheben, da sie von einem Team aus Anhängern und Kritikern der Homöopathie sowie unparteiischen Experten erarbeitet wurde (der Autor der vorliegenden Arbeit war Mitglied dieser Gruppe und zählt sich zur letztgenannten Kategorie). Hier wurden mit enormem Aufwand alle Homöopathie-Studien gesammelt und diejenigen, die randomisiert sowie plazebokontrolliert waren, analysiert. Sie kommt zu folgendem Schluss: «Es ist wahrscheinlich, dass unter den untersuchten homöopathischen Ansätzen einige Studien Effekte aufweisen, die über Nulltherapie oder Plazebo hinausgehen.»[17] Nach einem Vermerk am Ende des Berichts beziehen sich die Zahlen in Klammern «auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck», der leider aber nicht mehr zur Verfügung steht. Aber immerhin bezeichnete sich Ernst damals noch als «unparteiischer Experte».

Trotzdem können die zitierten Aufsätze über einen Umweg ermittelt werden. Ebenfalls im Jahre 1997 erschien Ernsts Aufsatz «Homoeopathy: past present and future»[18] mit weitgehend übereinstimmendem Text und mit vollen Literaturangaben. Inwieweit dies ein in der Wissenschaft eigentlich verpöntes bei Ernst aber übliches Selbstplagiat ist, mag einer eigenen Überprüfung vorbehalten bleiben.[19] Eine der Quellenangaben bezieht sich danach auf die frühe Arbeit der Niederländer J. Kleijnen, P. Knipschild und G. ter Riet[20], auf eine weitere der Autoren K. Linde, N. Clausius, G. Ramirez et altera[21], sowie auf die Studie im Auftrag der EU[22].

Aber das sind nur Momentaufnahmen im gesamten Lebenswerk des «ersten Professors für komplementäre Medizin auf der Welt», wie er sich – quasi als  eine Art Ehrentitel – gerne vorstellen lässt. Er hat jedoch darüber sorgfältig geführte Literaturlisten anlegen und diese ins Internet stellen und zudem jährlich mit einem «Total Impact Factor» (also einem «Einfluss-Faktor») auf drei Stellen hinter dem Komma genau bewerten lassen.[23] Von 1994 bis 2009 (also in 16 Jahren) weist diese Liste insgesamt 1482 Artikel aus, darunter 79, in denen Edzard Ernst nicht als Autor (Allein- oder Ko-Autor) ausgewiesen ist, also beansprucht er die Autorenschaft von insgesamt 1403 Aufsätzen[24]. Damit beansprucht Ernst für sich, pro Jahr im Durchschnitt 87,7 Artikel allein oder mit anderen Autoren, also rund alle vier Tage und fünf Stunden eine wissenschaftlich bemerkenswerte Leistung verfasst zu haben, die in irgendeiner englisch- oder deutschsprachigen medizinischen Fachzeitschrift veröffentlicht worden ist[25].

Das aber ist noch längst nicht alles. In einer früheren, bis ins Jahr 2005 reichenden Liste sind 24 Bücher aufgelistet, die Ernst geschrieben, herausgegeben oder als Koautor verfasst hat oder die als Übersetzungen in anderen Sprachen erschienen sind, also zwei Bücher pro Jahr. Darunter befindet sich als besonderes Kleinod das «International Dictionary of Homoeopathy», an dem Ernst als «Member of Editorial Committee and Contributor» mitgewirkt hat[26]. Außerdem in den Jahren 2004/2005 Artikel-Serien in The Guardian, Pharmaceutical Journal, Doctor Magazine und Chemist Druggist. Desweiteren im Jahre 2004 insgesamt sieben «Chapters», also Buchkapitel[27]. Bemerkenswert dabei ist – besonders im Hinblick auf dessen Ausführungen über den Tod von Steve Jobs – das Kapitel «Complementary and alternative medicine in patients with cancer», zusammen mit C. Stevenson[28]. Besonders erwähnenswert ist das Buch «Die Andere Medizin» der Stiftung Warentest aus dem Jahr 2005, in dem Ernst als «Schlussgutachter» ausgewiesen ist, für das er aber in einer seiner Publikationslisten die alleinige Autorenschaft für sich beanspruchte. Die Menge der darin enthaltenen Fehler ist kaum zu überblicken, bis hin zu dem Abschnitt über «Klostermedizin», die er auf die beiden Frauen Hildegard von Bingen und Maria Treben mit ihrer Schrift «Gesundheit aus der Apotheke Gottes» beschränkt wissen will.[29]

Schließlich ist Ernst Chefredakteur zweier medizinischer Journale, nämlich Perfusion und FACT (Focus on Alternative and Complementary Therapies). Ferner war er lt. Wikipedia– Eintrag «bis 2005 Mitglied im Ausschuss für Humanarzneimittel der britischen Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Arzneimittel, ferner Mitglied im Ausschuss für pflanzliche Arzneimittel der irischen Arzneimittelbehörde (Irish Medicines Board)».  Er sei desweiteren externer Prüfer für mehrere universitäre Medizinschulen in mehreren Staaten und Mitglied im Beratungsausschuss der AlterMed Research Foundation, einer Stiftung, die die wissenschaftliche Forschung im Bereich der Alternativmedizin fördert. Dazu jährlich eine nicht ausgewiesene Zahl von  Vortragsreisen und die Teilnahme an Kongressen, Presseterminen und sonstige Aktivitäten, etwa die Beratung des Hamburger Magazins Stern. Quantitativ ist das für einen einzigen Menschen – unterstützt mit einem überschaubaren Team von etwa einem Dutzend Mitarbeiter/innen – kaum zu überbieten. Wer darin auch qualitative Weltspitze annehmen will – wie praktisch alle Wissenschaftsredaktionen der Hamburger und Münchner meinungsbildenden überregionalen Medien, viele öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und nicht zuletzt der englische Guardian – dem sei das unbenommen.

Für wirkliche Patientenbehandlungen, der eigentlichen Tätigkeit von – auch forschenden – Ärzten kann da kaum noch Zeit geblieben sein, zumal da sein Institut mit einem Post-Graduate-Studiengang  keine Klinikanbindung hatte. Und die Zahl der ärztlichen Rezepte, die er in jenen 16 Jahren  für Patientenbehandlungen lege artis ausgestellt haben mag, dürfte deutlich niedriger liegen als die Zahl der von ihm verfassten und verantworteten Publikationen oder der Zahl der Reisen zu medizinischen Tagungsterminen und Kongressen. Das, wie auch die Titel seiner Zeitschriften-Aufsätze legt den Schluss nahe, dass er für seine angebliche medizinische Spitzenforschung Untersuchungen und Behandlungen von Patienten, Laboranalysen, Röntgen- und EKG-Befunde als völlig überflüssig und für wissenschaftliches Arbeiten nur als hinderlich erachtet. Die  wenigen Mitarbeiter/innen seines Instituts[30] dürften mit Literatur-Recherchen und -Auswertungen sowie Schreibarbeiten voll ausgelastet gewesen zu sein. Und der Professor selbst dürfte sich inzwischen in manchen Flughafen- VIP-Launches dieser Welt besser auskennen als in einem Krankenhaus. Sein Institut war letztlich ein Schreibbüro für medizinische Trivialliteratur.

Schließlich kommen die Spiegel-Interviewerinnen Annette Bruhns und Eva-Maria Schnurr auf den anhaltenden Streit des Professors mit Prinz Charles zu sprechen, den er unter anderem als «Schlangenölverkäufer» verunglimpft hatte.  Was «passiert» sei, erklärt Ernst wie folgt: «Prinz Charles hat mal ein Gutachten über den ökonomischen Nutzen von Alternativmedizin im britischen Gesundheitssystem in Auftrag gegeben. Ich wurde dazu befragt, doch die Endfassung des Gutachtens wollte ich nicht mittragen, weil darin beispielsweise stand, dass Homöopathie gegen Asthma viel Geld einsparen würde.»[31][32] Hinter der eher abwertend als «Gutachten» erwähnten Arbeit verbirgt sich der berühmte  fast 200 Seiten umfassende Smallwood-Report, mit dem vollständigen Titel «The Role of Complementary and Alternative Medicine in the NHS – An Investigation into the Potential Contribution of Mainstream Complementary Therapies to Health Care in the UK», die von Prinz Charles in Auftrag gegeben worden war. Verfasst wurde die umfangreiche, knapp 200 Seiten umfassende  Studie von Christopher Smallwood, dessen Bezeichnung «ehemaliger Chefvolkswirt der Barcleys-Bank» nur höchst unvollkommen wiedergegeben wird, unterstützt von einer der namhaftesten Beratungsfirmen. In die Untersuchung sind vier Diszipinen: Akupunktur, Homöopathie, Manipulationstherapien (Chiropraktik und Osteopathie sowie Phytotherapie (Herbal Medicine) einbezogen.

Im Internet ist der Smallwood-Report aufzurufen unter www.getwelluk.com/uploadedFiles/Publications/SmallwoodReport.pdf.

Man kann diesen Report ausdrucken und sich ein eigenes Bild von der außerordentlich sorgfältigen Arbeit machen. Es gehört zu den bemerkenswerten journalistischen Spiegel-Leistungen, nicht weiter nach dem Titel dieses Reports gefragt, und von der laut Impressum immerhin 15 Personen umfassenden Dokumentations-Redaktion, dieses Dokument nicht ausfindig gemacht zu haben. Weil es Ernst nicht gelang, die Homöopathie insgesamt aus den volkswirtschaftlichen Untersuchungen des Smallwood-Teams mit vorhersehbar günstigen Ergebnissen herauszuhalten, hatte er damals seine Beteiligung eingestellt.

Ganz ähnlich wie im Falle der Smallwood-Kommission verhielt sich Ernst auch als Mitglied der Berufungskommission für die Nachfolge von Professor Reinhard Saller am Lehrstuhl für Naturheilkunde der Universität Zürich. Mit bemerkenswert fragwürdigen Mitteln versuchte er die Berufung von Professor Claudia Witt zu verhindern, die den Stiftungslehrstuhl der Carstens-Stiftung an der Charité in Berlin innehatte, wobei er nach Presseberichten in Interviews auch die gebotene Schweigepflicht verletzt hatte. Sein Vorwurf gipfelte in der Aussage: «Es wäre im Interesse der Fakultät, keine Quacksalberei zu haben.»[33] Als er feststellen musste, dass er die Berufung von Witt nicht verhindern konnte, trat er aus Protest zurück und sagte «nach seinem Ausscheiden dem TA, er wolle seinen Namen nicht für so einen ‹Saustall› hergeben.»[34]

Doch zurück zum Smallwood-Report. Darin werden die Ausführungen die Vorbehalte Ernsts gegenüber Homöopathie ausdrücklich erwähnt, aber dann festgestellt: «In einem Report der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird die Unwahrscheinlichkeit der zugrunde liegenden Wissenschaft der Hochpotenz-Homöopathie von einem pharmakologischen Standpunkt aus eingeräumt . Es wird jedoch dargestellt, dass die Mehrheit der Homöopathie-Forschungen in den letzten 40 Jahren . . . gezeigt hat, dass Homöopathie besser als Placebo in einigen Placebo-kontrollierten Versuchen ist.» Der Report geht auch näher auf  die von Linde et al. erstellte Studie von 1997ein, die von Ernst als «technisch hervorragende Meta-Analyse» zitiert worden sei.[35]

Als eines der wesentlichen Ergebnisse der volkswirtschaftlichen Untersuchung wird in der Zusammenfassung resümiert: «Unsere Haupt-Schlussfolgerung lautet, dass es genügend Evidenz gibt um vorzuschlagen, dass einige komplementäre Therapien, die in diesem Report aufgelistet sind, als wirksamer erscheinen als konventionelle Herangehensweisen zur Behandlung gewisser chronischer und psychosozialer Zustände, und spezifische Behandlungen die Möglichkeit zu Kostensenkungen bieten, vor allem wenn sie an Stelle statt in Ergänzung zu orthodoxen Behandlungen bereitgestellt werden.»[36]

Ernst setzte dagegen einiges in Bewegung, obwohl viele seiner Ansichten über Homöopathie direkt oder indirekt berücksichtigt waren:  Er initiierte einen «Open letter from some of the UK’s leading doctors urging NHS trusts to stop using complementary therapies», in dem es unter anderem gegen die Homöopathie heißt: «Sie ist eine unplausible Behandlung, für die über ein Dutzend systematische Studien keine überzeugende Evidenz ihrer Wirkung erbringen konnten.»[37] Unter den Zeichnern des Briefes findet sich auch der Nobelpreisträger James Black. Ferner versuchte er im British Medical Journal, der Ärztezeitung im Vereinigten Königreich, mit einem kurzen, lediglich knapp zwei Druckseiten umfassenden Beitrag die Ergebnisse des Smallwood-Reports zu relativieren. Darin heißt es als Schlussfolgerung, dass «komplementäre Behandlungen zusätzliche  Gesundheitskosten in vier der fünf rigorosen Kosten-Wirkungs-Studien bedeuten würden».[38]

Manches spricht dafür, dass es – von wem auch immer – das eigentliche Ziel Ernsts und seiner Mitstreiter war, die Veröffentlichung des offenbar als Manuskript fertiggestellten WHO Draft Report zu verhindern, wenn sich schon der Smallwood-Report nicht zurückhalten ließ. Denn in derselben Ausgabe der Zeitschrift Lancet, in der 2005 in einem Editorial «das Ende der Homöopathie» herbeigeschrieben werden sollte[39] erschien als «World Report» ein Beitrag, der auf dieselbe Passage des WHO-Reports Bezug nimmt wie der Smallwood-Report. Diese lautet: «Der 40-seitige Entwurf über Homöopathie mit dem Titel ‹Homoeopathy: review and analysis of reports on controlled clinical trials› stellt fest, dass die ‹Mehrheit› der von den Fachleuten überprüften wissenschaftlichen Artikel, die während der vergangenen 40 Jahre veröffentlicht wurden, gezeigt haben, dass Homöopathie gegenüber Placebo und Placebo-kontrollierten Versuchen bei der Behandlung von Krankheiten überlegen und gleichwertig mit konventioneller Medizin ist, sowohl bei Menschen, als auch bei Tieren.»[40] Und weiter: «Der Report beschreibt die Ergebnisse einer ausgewählten Menge von systematischen Reviews, Metaanalysen, kontrollierten Versuchen, Kostenwirksamkeit und Wirkungsstudien sowie Beobachtungsstudien. Fast alle diese angeführten Studien unterstützen die Anwendung der Homöopathie.»[41]

Und hier wiederum kommt Ernst ins Spiel: «Edzard Ernst, Professor für Komplementärmedizin an der Peninsula Medical School (Exeter, UK), sagte, der Entwurf scheint offensichtlich voreingenommen[42] zu sein, das heißt, er basiert auf positiven Daten, während die negativen Studien und systematischen Reviews ‹vergessen› werden. Die angeführten randomisierten klinischen Versuche, sagte er, sind alle positiv ausgegangen; es sind nicht die gründlichsten, nicht die neuesten. Das regt den Leser nicht dazu an zu glauben, dass der WHO-Report beabsichtigte, objektiv zu sein.» Und weiter: «Ich finde es entsetzlich beunruhigend, fügte er hinzu, weil die WHO die Homöopathie nicht so fördern sollte, wie sie es bei der Akupunktur tat.»[43]

Diese Vorveröffentlichung  von Erkenntnissen der Smallwood-Arbeitsgruppe mit einer diametral anderen, negativen Bewertung der Homöopathie scheint der Hintergrund für die Vorhaltungen des Vertrauensbruchs des Sekretärs von Prinz Charles zu sein.[44]

Die «Linde-Studie»[45] spielt auch bei den Vorgängen um die ominöse «Egger-Studie»[46], eine bemerkenswerte Rolle: Linde et altera kamen unter anderem zu der “Interpretation”, dass „die Ergebnisse unserer Metaanalyse nicht mit der Hypothese vereinbar sind, dass die klinischen Effekte der Homöopathie vollständig auf Placebo zurückzuführen sind.“ Entgegen dieser eher positiven Beurteilung kam die «Egger-Studie» zu der Auffassung, «dass die klinischen Effekte der Homöopathie Placebo-Effekte sind.»[47]

Das wiederum ging Klaus Linde zu weit, und mit einiger Zeitverzögerung und nicht in Lancet, sondern in der Forschenden Komplementärmedizin schrieb er einen Kommentar, der leider nicht von den maßgebenden medizinischen Datenbanken (vor allem PubMed/Medline) erfasst wird, über die «Egger-Studie»: „Äußerst unbefriedigend ist, dass die Darstellung der Ergebnisse in der Publikation bzw. das Fehlen von Zusatzinformationen es unmöglich macht, die Ergebnisse selbst nachzuvollziehen. In Metaanalysen sind die Ergebnisse so zu präsentieren, dass fachkundige Leser den Selektionsprozess nachvollziehen und die Berechnungen selbst nachrechnen können. Gründe für den Ausschluss potenziell relevanter Studien müssen angegeben werden. Für jede in die quantitative Analyse einbezogene Studie sind basale Informationen wie Fallzahl, Indikation, Intervention, Qualitätsindikatoren und die für die Effektmaßberechnung verwendeten Rohdaten zu berichten. Entsprechende Empfehlungen hat der Lancet selbst publiziert! Sicher kann man nicht erwarten, dass all diese Details bei einer derart großen Zahl von Primärstudien mit abgedruckt werden. Auch in unserer 1997er Analyse druckte der Lancet aus Platzgründen nicht alle eingereichten Details. Wenn eine Zeitschrift aber das ‚Ende’ einer ganzen Therapierichtung proklamiert, kann man durchaus verlangen, dass sie zumindest im Internet entsprechende Informationen zugänglich macht.“[48]

Im Summery der «Egger-Studie» wird behauptet, dass darin110 homöopathische Studien analysiert worden seien; und diese Zahl wird in allen Folgeaufsätzen, die darauf Bezug nehmen, genannt. Tatsächlich wurde in einer aus Platzgründen nicht in Lancet veröffentlichten «List of excluded homeopathy studies» nicht weniger als 60 Studien aufgelistet, die in der Analyse nicht berücksichtigt werden konnten. Diese seien nach einem Vermerk von Linde ins Internet gestellt worden, wo sie aber nicht auffindbar waren. Auf Rückfrage bei Professor Egger teilte dieser mit: «Wir werden diese Files erneut unter ‹Downloads» aufschalten.»[49]

Was aber in dieser facettenreichen Diskussion besonders verblüfft, ist Lindes spätes Eingeständnis gravierender Mängel, welche die 1997er „Linde-Studie“ offenbar völlig unbrauchbar macht. Linde schreibt in seinem Kommentar: „Die jetzige Diskussion hat ihre Wurzeln nicht zuletzt in den Problemen des Ansatzes der von Kollegen und mir 1997 vorgelegten ‚positiven’ Metaanalyse. In dieser haben wir Studien zusammengeworfen (‚gepoolt’), die man eigentlich auf keinen Fall zusammenwerfen sollte: zu Komplexmitteln  und individueller Mittelverschreibung, zu Muskelkater und Migräne, mit einer Dauer von wenigen Tagen bis zu Jahren und mit völlig unterschiedlichen Zeitkriterien. Wir haben die Studien dennoch gepoolt mit dem folgenden Argument: Wenn die häufig geäußerte Hypothese richtig ist, dass alle homöopathischen Interventionen lediglich Placeboeffekte haben, dann sollte – in methodisch sauberen Studien – kein Unterschied zwischen Verum und Placebo beobachtet werden, ganz gleich, ob es sich um Grippe oder Krebs, klassische Homöopathie oder Komplexmittel geht.“ Und weiter unten: „Unser Ergebnis von damals lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Warf man alle Studien zur Homöopathie zusammen ergab sich eine eindeutige Überlegenheit gegenüber Placebo. Allerdings waren die Effekte in methodisch besseren Studien deutlich geringer ausgeprägt, und homöopathisch ‚bessere’ Interventionen (z.B. klassische Homöopathie) zeigten im Schnitt keine besseren Effekte als z.B. Komplexmittel. Konsistente Evidenz für Effekte einzelner Interventionen in einzelnen Indikationen konnten wir nicht finden.“ Deutlicher kann man die eigene Voreingenommenheit kaum dokumentieren. Hinzu kommen Wertungen wie „bessere Studien“ (eine Aussage, die sich auf Texte bezieht) und „bessere Interventionen“ (eine Aussage, die sich auf Therapien bezieht), ohne darzulegen, was im jeweiligen Einzelfall unter „besser“ zu verstehen ist.

Eines der Argumente gegen die Homöopathie, die Ernst in letzter Zeit ständig wiederholt, sei ihre fehlende Plausibilität. In einem Kommentar im British Journal of Clinical Pharmacology über die «Wahrheit über Homöopathie» behauptete er, Homöopathie sei «biologisch implausibel». [50] Und in einem Gespräch mit der englischen Tageszeitung The Telegraph meinte er gleichlautend, dass Homöopathie «biologisch unplausibel» sei und Patienten davon abschreckte, sich angemessenen Behandlungen zu unterziehen oder sich impfen zu lassen.[51] Ganz ähnlich in einem Interview mit SpiegelOnline, wo er meinte, dass «die Prinzipien der Homöopathie biologisch in höchstem Maße unplausibel» seien[52]. Aber weit über die Homöopathie hinaus zieht das Argument der Plausibilität als eines der entscheidenden Kriterien für angebliche Wissenschaftlichkeit wie ein roter Faden durch viele Veröffentlichungen von Ernst.  Das zeigt sich besonders in dem Stiftung-Warentest-Buch „Die Andere Medizin“[53] mit Ernst als «Schlussgutachter». Darin ist die angebliche „Plausibilität des Konzepts“ eines der Bewertungskriterien, denen mehr als 50 komplementäre und/oder  alternative Heilverfahren unterworfen werden. Die Autorinnen Krista Federspiel und Vera Herbst erläutern das wie folgt: „Die Idee, die hinter dem Konzept des Verfahrens steckt, wird mit dem naturwissenschaftlichen anerkannten Wissen abgeglichen»[54].

In dem Buch wird behauptet, dass «der hier beschriebene Erkenntnisstand der zuverlässigste (ist), der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung . . . zur Verfügung stand.»[55] Wie es um diese Zuverlässigkeit bestellt war, sei am Beispiel der Darstellung über Fiebertherapie illustriert.  Darin wird behauptet, der Wiener Psychiater Julius Wagner von Jauregg habe Fieberreaktionen dadurch «hervorgerufen», dass er mit der Injektionen einer zuvor experimentell festgestellten «Mischung von Bakterien» eine «deutliche Fieberreaktion» hervorrufen konnte und damit «bei psychisch erkrankten Patienten, die gleichzeitig Malaria – eine Krankheit mit wiederholten Fieberschüben hatten», «Besserungen» registrieren konnte. Zur medikamentösen Behandlung heißt es dazu wörtlich: «In Deutschland gibt es keine Fertigpräparate, mit denen eine Fiebertherapie durchgeführt werden kann. Die Injektionsmittel können aber in Speziallabors hergestellt werden. Apotheken können auf ärztliche Verschreibung aus Japan das Präparat Picibanil importieren.»[56] Wo der ausgewiesene Rassist Wagner-Jauregg in der von ihm geleiteten Irrenanstalt malariakranke Patienten hergenommen haben sollte, bleibt rätselhaft, und auch sonst zeichnen die Autoren ein extremes Zerrbild, für das sie sich dann «Ansätze einer wissenschaftlichen Plausibilität» attestieren.

Den Sachverhalt habe ich in meinem bereits erwähnten Gegenbuch zu der «Anderen Medizin» dargestellt und will daraus zitieren: Wagner-Jauregg gelang es im Jahre 1917 «höchst erfolgreich, durch das Herbeiführen von Fieber mithilfe von Erregern von Malaria die als Folge der Neurolues, einer Form der Syphilis, auftretende Progressive Paralyse zu behandeln (Malariatherapie)».[57] Das genannte Präparat Picibanil (andere Bezeichnung OK-432) ist ein in Deutschland nicht zugelassenes Krebsmittel. Wie ein Arzt aufgrund eines japanischen Beipackzettels die richtige Dosierung finden sowie Risiken und Nebenwirkungen abschätzen soll, bleibt unerwähnt. Im Übrigen hatte sich der Bundesgerichtshof im Jahre 1993 mit dem Todesfall eines elfjährigen Buben infolge einer grob fehlerhaften Fiebertherapie strafrechtlich zu befassen.[58]

Und für die Homöopathie lautet das Verdikt in dem Stiftung-Warentest-Buch: „Das Konzept der Homöopathie ist nach naturwissenschaftlichem Verständnis nicht plausibel; das gilt auch für die Richtungen der organotropen und Komplexmittel-Homöopathie sowie der Isopathie.“[59]

Ganz im Gegensatz dazu hatte Edzard Ernst noch im Jahre 1996 (in einem Buchbeitrag, der in seiner Literaturliste nicht aufgeführt ist) über Homöopathie geschrieben: «Das gelegentlich angeführte Argument der fehlenden Plausibilität überzeugt letztlich wenig.»[60]  Und in dem bereits zitierten Aufsatz im Deutschen Ärzteblatt  hatte er folgende Einsicht vertreten: „ . . . fest steht, dass bei weitem nicht alles, was in der Medizin therapeutisch eingesetzt wird und wurde, auf einem plausiblen Rationale basiert. Wer von uns würde davor zurückschrecken, beispielsweise Acetylsäure einzusetzen, wenn fest stünde, dass damit Krebs geheilt werden kann, ohne dass über den Mechanismus einer solchen Wirkung auch nur das Geringste bekannt wäre? Was in der klinischen Medizin letztlich zählt, ist also nicht die Plausibilität, sondern der Wirksamkeitsnachweis.“[61]

Kurz zuvor hatte er in zwei Beiträgen zum 200-jährigen Bestehen der Homöopathie Samuel Hahnemann und die von ihm kreierte Methode gewürdigt.  Im Jahre 1996 kommentierte er in Fortschritte der Medizin, dem «medizinischen Fortbildungsorgan für den niedergelassenen Arzt»: «Die Tatsachen zeigen, dass die Homöopathie wieder äußerst beliebt ist, dass sie zwar nicht nebenwirkungsfrei, aber wohl nebenwirkungsarm ist und dass die allermeisten Patienten mit ihr zufrieden sind. Sollte man in dieser Situation nicht eine gewisse Bereitschaft zur (nicht kritiklosen!) Offenheit an den Tag legen? Was wir brauchen, so scheint mir, sind nicht Glaubensbekenntnisse und Vorurteile, sondern ‹harte› Daten, die alle Beteiligten (Homöopathen, Wissenschaftler, Patienten) überzeugen.»[62] Und ganz entsprechend meinte er in der von ihm redigierten Zeitschrift Perfusion. Darin meinte er zunächst: «Die bislang umfassendste Analyse klinischer Studien (BMJ 1991, 302: 316-323) z. B. folgert, dass die Mehrzahl dieser Befunde positiv ist, dass jedoch ein abschließendes Urteil aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist.» Und er schließt dieses Editorial wie folgt:  «Die Homöopathie ist beim Patienten wieder äußerst beliebt. Meines Erachtens haben wir daher die Verpflichtung, sie zu überprüfen. 200 Jahre der Ungewissheit sind mehr als genug.»[63]

Nachdrücklich setzt sich Ernst auch für weitere Homöopathie-Forschung ein: «Selbst einige Kritiker der Homöopathie nehmen gegen weitere Forschung auf diesem Gebiet Stellung. Dieser Personenkreis argumentiert, dass angesichts der Mittelknappheit medizinische Forschung sich auf die aussichtsreichsten Projekte zu konzentrieren habe. Homöopathie sei nicht plausibel und gehöre daher nicht in diese Kategorie. Obschon in dieser These eine nicht zu leugnende Logik steckt, ist sie (meiner Meinung nach) zu verwerfen. Die Homöopathie erfreut sich heute einer immensen Beliebtheit. Solange große Teile der Bevölkerung (irgend)eine Therapie anwenden, wäre es schlichtweg unethisch, nicht zu versuchen, die essentiellen Fragen, die sich auf den Nutzen und das Risiko beziehen, zu beantworten.»[64]

Der Artikel endet mit dem Absatz: «Fazit: Der Streit um die Homöopathie ist so alt wie diese Behandlungsform. Die Argumente sind inzwischen bestens bekannt, aber nur zum Teil zutreffend. Eine Lösung ist von diesem Dauerstreit kaum zu erwarten. In dieser Situation kann wohl nur exakte neue Forschung weiterführen. Was wir brauchen, sind nicht weitere ein- bis zweihundert unschlüssige Studien, sondern zwei bis drei adäquat angelegte und von Unparteiischen durchgeführte Studien zum Wirkungsnachweis. Zweihundert Jahre Diskussion, so will es scheinen, macht nicht das eine oder das andere Lager, sondern die Medizin als solche lächerlich. Was schlimmer ist, sie schadet letztlich unseren Patienten.»[65] In dem schon erwähnten englischen Pendant zu diesem Beitrag lautet der Schlusssatz: «Im Licht der gegenwärtigen Popularität der Homöopathie würde es nicht weniger als unethisch und gegen die besten Interessen unserer Patienten sein, diese Herausforderung nicht anzunehmen.» Wie sich das mit seiner Abqualifizierung der Homöopathie und anderer CAM-Verfahren als «unethisch kriminell» verträgt, muss dessen Geheimnis bleiben. Es wirft aber ein Schlaglicht auf dessen Verständnis von Wissenschaft.

Dr. Christian Ullmann, Dießen am Ammersee
Dießen im April 2015
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